Im Buchrückentext heißt es: „Germain Chaze[s] ist eine Seele von Mensch, nur leider nicht der Schlaueste. […]“ Es ist ein bisschen peinlich, dass der Name des Protagonisten schon in der Einführung falsch geschrieben steht, aber das nur am Rande…
Menschen sind immer schnell dabei, jemanden als dumm abzustempeln. Mir stößt das jedesmal bitter auf, denn meistens wird aufgrund fehlender Bildung und damit einhergehend eines weniger eloquenten Auftretens auf mangelnde Intelligenz geschlossen. Dumm! Ein schönes Zitat aus dem Buch lautet: „Wenn man unkultiviert ist, heißt das nicht, dass man nicht kultivierbar ist. Man muss nur an einen guten Gärtner geraten.“ Aber im Falle von Germain Chazes muss selbst ich einräumen, dass er nicht der Schnellste im Kopf ist, selbst wenn obiges Zitat von ihm stammt und sowohl ein schönes Wortspiel als auch eine treffende Metapher beinhaltet. Tragischerweise ist ihm diese Tatsache bewusst, sodass ich nicht einmal eines meiner Lieblingsweisheiten „Das Glück liegt bei die Dummen“ anbringen kann. Denn das Glück, von dem die Rede ist, ist die Gnade des Nichtwissens. Wie gesagt, Germain Chazes ist diese Gnade nicht zuteil geworden. Überhaupt ist ihm im Leben wenig Gnade zuteil geworden. Als Ergebnis eines Onenightstands hatte seine Mutter nie viel Zärtlichkeit für ihn übrig und in der Schule wurde er vom Dorflehrer aufgrund seines langsam arbeitenden Verstandes gedemütigt und schikaniert. Infolgedessen brach er die Schule sehr früh ab, sodass er auch als Mitt- oder Endvierziger nur Jobs als Hilfsarbeiter annehmen kann.
Aber Germain Chazes ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass fehlende Übung oftmals die Wurzel eines Übels ist. Er, der regelmäßig in den Park geht, um Tauben zu zählen, trifft dort eines Nachmittags auf die pensionierte Margueritte und fortan zählen sie gemeinsam Tauben. Aber nicht nur das. Margueritte scheint der einzige Mensch zu sein, der erkennt, dass unter Germains grobschlächtiger Schale ein sensibler und entdeckenswerter Kern steckt. Sie, die gebildete Akademikerin beginnt, ihm aus ihren Büchern, die sie stets mit sich trägt, vorzulesen und weckt damit seine Fantasie und seinen Verstand aus dem Dornröschenschlaf. Sie schenkt ihm außerdem ein altes Wörterbuch, mithilfe dessen er endlich vernünftig Lesen und Schreiben lernt und sich auf die Reise ins Labyrinth der Wörter macht. Mit den Wörtern kommen auch die Gedanken, denn denken kann man nur in Begriffen. Ohne vernünftigen Wortschatz gibt es keine vernünftigen Gedanken. Und noch etwas anderes, sehr wichtiges im Leben eines Menschen lernt er durch den Umgang mit ihr: Vertrauen und Verantwortung – und Liebe.
Mehr möchte ich gar nicht verraten, denn man muss das Buch lesen, um wirklich zu verstehen. Es ist aus der Erzählperspektive Germains geschrieben und sowohl Formulierungen als auch Wortwahl lassen den Leser miterleben, wie ein rostiger Geist erwacht und seine Flügel streckt. Es ist eine lebensbejahende Geschichte, die anrührend ist, ohne kitschig zu werden.
Übrigens wurde auch dieses Buch verfilmt. Gesehen habe ich ihn noch nicht, werde es aber mit Sicherheit noch tun. Immerhin spielt Gérard Depardieu die Hauptrolle. Ich könnte mir kaum einen besseren Darsteller für die Figur des liebenswerten, etwas einfältigen und hünenhaften Germain Chazes vorstellen!